Aufklärung

Komm rüber!

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In Vorbereitung auf meinen nächsten Beitrag Die schwarze Kali, in dem ich über die Klagen berichten werde, die ich gegen meine Universität eingereicht habe, gebe ich dir hier – quasi als Vorkurs „Struktur und Umbau des deutschen Hochschulwesens“ – eine kurze, schlaglichtartige und simplifizierte Darstellung der Situation an deutschen Hochschulen mit einem Schwerpunkt auf Universitäten. Dies soll hauptsächlich Personen, die im Hochschulwesen nicht so bewandert sind, eine bessere Einordnung der Vorgänge, die ich im nächsten Beitrag beschreibe, ermöglichen. Insbesondere werde ich hier einige signifikante Veränderungen aufzählen, die an deutschen Universitäten seit spätestens Ende der 1990er Jahre stattgefunden haben, und die den Charakter unseres Bildungssystems grundstürzend verändert haben.

Solltest du an mehr und insbesondere differenzierterer Information zu diesen Themen interessiert sein, so kann ich durchaus einige Wikipedia-Einträge empfehlen, wie etwa „Bologna-Prozess“, „Akkreditierung (Hochschule)“ oder „Replikationskrise“ (hier ist das englische Pendant „replication crisis“ allerdings tiefergehend als die deutsche Variante).

Beginnen möchte ich mit einer (stark vereinfachten) Darstellung der Organisationsstruktur einer Universität. Forschung und Lehre, d.h. die eigentlichen Aufgaben einer Universität, finden i.d.R. an Lehrstühlen (häufig auch Lehrgebiete genannt) statt, die von einem Professor oder einer Professorin geleitet werden und eine unterschiedlich große Zahl von Mitarbeiter*innen haben. Lehrstühle sind in Fakultäten zusammengefasst, die von Dekanaten geleitet werden. Die Gesamtheit aller Fakultäten wiederum konstituiert die Universität, die von einem Rektorat (häufig auch Präsidium genannt) geleitet wird. Bis etwa Ende der 1990er Jahre wurden die Entscheidungen innerhalb dieser Struktur zu einem Großteil bottom-up und in Selbstorganisation getroffen. Dieser Struktur, die die eigentlichen Aufgaben einer Universität erfüllt, ist eine Verwaltungsstruktur beigeordnet, die ursprünglich einmal die Funktion hatte, die Forschungs- und Lehrtätigkeiten des Lehrpersonals zu unterstützen. Vielerorts sind die Hochschulverwaltungen in den letzten Jahren an Personal, Ausstattung und Macht enorm gewachsen.

Umbau der deutschen Hochschullandschaft  ab spätestens Ende der 1990er Jahre

Ende der 1990er Jahre lag für mich der gefühlte Beginn eines nach wie vor stattfindenden Umbaus unserer Universitäten, der sie von Bildungseinrichtungen in Unternehmen verwandelte, der aus Studierenden Kund*innen machte, der Training für eine Beschäftigung in der Wirtschaft an die Stelle von Bildung setzte und der die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre, die durch Artikel 5 Absatz 3 unseres Grundgesetzes geschützt sind, fortgesetzt einschränkt. Fast jeder der im Folgenden aufgeführten Punkte ging dabei mit einem eigenen, kleinen (oder auch größeren) Bürokratiemonster einher. Aber los geht’s:

Bilder aus der Serie Dark Days – New York, …

Hochschulrat

Der oben beschriebenen Organisationsstruktur wurde 1998 der sog. Hochschulrat als Kontrollgremium übergestülpt. Dies geschah auf Betreiben der Privatwirtschaft. Hier sind, wie du auch auf Wikipedia nachlesen kannst, insbes. die Bertelsmannstiftung und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft zu nennen. Seitdem steuern die Hochschulräte mit ihren Vertreter*innen aus u.a. Politik, Wirtschaft und anderen wissenschaftsfremden Bereichen die Geschicke der deutschen Hochschulen mit.

Bologna-Prozess

Ebenfalls Ende der 1990er Jahre wurde der sog. Bologna-Prozess gestartet, benannt nach einer Konferenz der europäischen Bildungsminister in Bologna, auf der eine „Vereinheitlichung des europäischen Hochschulraumes“ beschlossen wurde. Auf diesen Beschluss geht u.a. die Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge zurück. Seit diesem Zeitpunkt sind Bildung, Persönlichkeitsentwicklung oder die Befähigung zu kritischem, wissenschaftlichem oder eigenständigem Denken nicht mehr Ziel eines deutschen Hochschulstudiums. Stattdessen ist seitdem das nachlesbar erklärte und zu einem guten Teil erreichte Ziel, Studentinnen und Studenten zu funktionierenden Arbeitskräften für ihren Einsatz in Wirtschaft und Industrie zu trainieren.

Die Abschaffung der bis zu diesem Zeitpunkt existierenden Diplomstudiengänge machte übrigens auch der seit dem Deutschen Kaiserreich immer gern als Schwiegertochter gesehen deutschen Diplomingenieurin den Garaus. [kleiner Insider-Scherz am Rande]

European Credit Transfer System (ECTS)

Auch die Einführung des European Credit Transfer System (ECTS) zur Bewertung von Studienleistungen wurde damals in Bologna beschlossen. In Kombination mit der Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge können hier folgende resultierende Effekte genannt werden: für Studierende eine enorme Erhöhung der Anzahl abzulegender Prüfungen, eine Entfremdung zwischen Lehrenden und Studierenden, eine Verringerung der Studienqualität, insbes. in Bachelor-Studiengängen, eine Erhöhung des Konkurrenzdrucks unter den Studierenden, eine Verknappung von Studienplätzen, insbes. für den Master-Abschluss, eine Überlastung bei allen Beteiligen, also Studierenden wie Lehrenden, eine exponentiell wachsende Hydra von Prüfungsordnungen, Modulhandbüchern, Leistungserfassungslisten, … [Aufzählung nicht vollständig]

Akkreditierungsunwesen

Ebenfalls im Zuge des Bologna-Prozesses wurde das Akkreditierungswesen an deutschen Hochschulen eingeführt, das im Widerspruch zur Freiheit der Lehre steht, die, wie gesagt, in Art. 5 Abs. 3 unseres Grundgesetzes geschützt wird. Im Kern bedeutet es nämlich, dass die vormals freie Lehre seitdem von privatwirtschaftlichen Akkreditierungsagenturen sowie einem übergeordneten Akkreditierungsrat (organisiert in einer Stiftung und u.a. auch wieder mit wissenschaftsfernen Personen aus Wirtschaft und Politik besetzt) kontrolliert wird.

Jeder Studiengang muss von einer Agentur akkreditiert werden. Eine Akkreditierung gilt i.d.R. 5 bis 7 Jahre, bevor sie erneuert werden muss. (Wo genau war das eigentlich alles nochmal gesetzlich geregelt?) Und natürlich arbeiten diese Agenturen zwar vergeblich (bezogen auf das erklärte Ziel der Verbesserung der Lehre) doch nicht umsonst. Eine einzelne Akkreditierung kostet eine Universität etwa 10.000 bis 15.000 Euro. Zwischen den Jahren 2000 und 2012 gab es bspw. über 13.000 Studiengänge. Bis 2012 wurden über 360 Millionen Euro für Akkreditierungen ausgegeben. Weitere Kosten, die in keiner Bilanz auftauchen, entstehen aufseiten der Lehrenden, die die oft mehrtägigen Begehungen durch die Agenturen vorbereiten und durchführen müssen (oder zumindest glauben, dies zu müssen). Diese Arbeitszeit fehlt für die eigentliche Lehre.

Das Akkreditierungswesen erschwert darüber hinaus das Einfließen aktueller Forschungsergebnisse in die Lehrinhalte sowie das Einbringen von Innovation in die Lehrmethodik. Zusammen mit der Tatsache, dass Nachbesserungsempfehlungen einer Agentur i.d.R. nachgekommen wird, auch wenn sie keinen Sinn ergeben, weil Fakultäten (oder Universitäten) die Akkreditierung erhalten möchten, resultiert unterm Strich eine Verschlechterung der Lehre. Zusammenfassend gesagt ist das im Rahmen des Bologna-Prozesses eingeführte Akkreditierungswesen höchstwahrscheinlich verfassungswidrig, nutzlos, teuer, energieverschwendend und nicht zielführend und scheint außerdem noch eine lukrative Einnahmequelle aus (Steuer-)geldern für … – ja für wen eigentlich genau? – zu sein.

Permanente Gehaltsverhandlungen

Ein weiterer gewichtiger Punkt des Hochschulumbaus wurde 2002 mit einer Änderung der Besoldungsstruktur für Professor*innen eingeführt. Seit der Umstellung auf die sog. W-Besoldung, in der es drei Gruppen gibt (W1, W2 und W3; W1 bspw. für sog. Juniorprofessuren), gilt es, alle 2 bis 3 Jahre einen nicht unerheblichen Teil seiner Bezüge immer wieder erneut auszuhandeln. Die Entscheidungen über die Bewilligung dieser Bezügeanteile werden von den Rektoraten getroffen. Meist wird auch noch eine Beurteilung des Dekans für die Bezüge-Beantragung benötigt. Wobei es vorkommen kann, dass der wiederum um Bezüge aus demselben Topf konkurriert…

… ausgestellt in der Ausstellung Slow Art im Los Angeles Convention Center, 2008.

Enorme Gehalts- und Pensionsunterschiede zwischen Männern und Frauen in gleichen Besoldungsgruppen

Während bis zur Umstellung auf die W-Besoldung sichergestellt war, dass verbeamtete Frauen auf einer Professur die gleichen Bezüge und gleichen Pensionen erhielten wie Männer, gilt dies seit der Umstellung auf die W-Besoldung nicht mehr. Ich möchte vermuten, dass mittlerweile der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen in keiner Branche so hoch ist wie in den höheren Rängen des Beamtentums an deutschen Universitäten. Beispielsweise wurde die durchschnittliche Gehaltsdifferenz zwischen Männern und Frauen über alle W3-Informatik-Professuren an Nordrhein-Westfalens Universitäten für 2016 mit 1.587 Euro brutto monatlich ermittelt. [1] Hochgerechnet auf die Zeit, seit der ich an meiner jetzigen Universität beschäftigt bin, macht das für mich eine Differenz von rund 222.000 Euro zu einem durchschnittlichen männlichen Kollegen. Der Gehaltsunterschied wirkt sich später natürlich auch auf die Höhe der Pensionen aus.

Publish or perish! – Veröffentliche oder gehe unter!

Aber auch für die meisten meiner männliche Kollegen war die Umstellung auf die W-Besoldung nicht von Vorteil, da sie Druck erhöht und Konkurrenzdenken statt Kooperation fördert. Vielerorts haben Fakultäten sich auf lange Listen von Kriterien verständigt, welche bei den laufend wiederkehrenden Gehaltsverhandlungen bei Erfüllung positiv zu Buche schlagen sollen. Wohl an keiner Fakultät dürfte als Kriterium die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen fehlen. Solange die Mehrheit sich einem Quantitätsdiktat beugt, hat die Belohnung von Quantität statt Qualität jedoch zwangsläufig zur Folge, dass die Qualität auf der Strecke bleibt. Wissenschaftliche Veröffentlichungen betreffend ist dies ein weltweit existierendes Phänomen, das in Wissenschaftskreisen mit dem geflügelten Wort publish or perish (veröffentliche oder gehe unter) beschrieben wird, und das in den letzten Jahrzehnten zu einer Flut von (im besten Falle) belanglosen Publikationen geführt hat.

Hier ein Link zu weiteren Bildern aus der Serie Dark Days -New York.

Replikationskrise

Ganz so harmlos ist die Publikationsflut jedoch nicht, denn sie dürfte mit eine Ursache für die noch fatalere Replikationskrise sein, ein ebenfalls weltweit sich entfaltendes Problem. Es bedeutet, dass die Ergebnisse vieler Studien der empirischen Wissenschaften, wie etwa der Psychologie oder der Medizin, sich nicht reproduzieren, also von anderen Wissenschaftler*innen wiederholen lassen. Diese Wiederholbarkeit ist jedoch ein wichtiges Kriterium, um den Befund einer Studie zu erhärten. Dass viele veröffentlichte Ergebnisse sich nicht reproduzieren lassen, lässt starke Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser publizierten Befunde aufkommen.

Übertragung von Arbeitschutzpflichten auf Professor*innen

In den 1990er Jahren wurden Europäische Arbeitsschutzrichtlinien in deutsches Recht übertragen und, obwohl nicht unbedingt passend, auch auf Hochschulen angewendet. Dies bedeutete, dass die Rektorate als die eigentlich Verantwortlichen für ihre Hochschule umfassende Pflichten den Arbeitsschutz betreffend bekamen. Diese übertrugen sie jedoch häufig auf Professor*innen. Während die bisher beschriebenen „Umbaumaßnahmen“ der Hochschullandschaft „lediglich“ für immer mehr Bürokratie, Erschöpfung, Ungerechtigkeit, Entfremdung und Qualitätsverlust gesorgt hatten, geht es bei der Übertragung dieser Pflichten allerdings in eine andere Qualität von Machtausübung. Denn hier wird uns zum ersten Mal von unseren Rektoraten bei Nichtwohlverhalten offen mit Freiheitsstrafen und Haftung ins Privatvermögen gedroht.

Möglicherweise ist es damit aber bald vorbei. Denn eine meiner Klagen, über die ich in meinem nächsten Beitrag Die schwarze Kali berichte, richtet sich gegen diese Übertragung von Arbeitschutzpflichten auf Professor*innen.

Falls du eine Meinung zu diesem Themen hast, darfst du sie gern unten in den Kommentaren hinterlassen.

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[1]

Gender-Report 2019, Geschlechter(un)gerechtigkeit an nordrhein-westfälischen Hochschulen, Studien Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW, Nr. 31, Tab. C 4.13, Seite 306.

Bildnachweis: Das Headerbild stammt aus dem Cartoon-Band von Tom Gauld, Abteilung für irre Theorien, der sich mit den Absurditäten der modernen Wissenschaft befasst. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Edition Moderne, der im letzten Jahr mit dem Preis des Schweizer Buchhandels als „Verlag des Jahres 2021“ ausgezeichnet wurde.

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